Mein Buch „So hilft mir die Chirotherapie – Gezielte Griffe bei Hexenschuss, Ischias, Kopfschmerzen, Tinnitus und vielem mehr“ beinhaltet folgende Kapitel:

Kapitel 1: Kleine Kulturgeschichte der manuellen Medizin

Kapitel 2: Vorsicht: Schmerz!

Kapitel 3: Der Chirotherapeut, das unbekannte Wesen

Kapitel 4: >>Einrenken<< von A bis Z

Kapitel 5: Ergänzende Maßnahmen


Kapitel 1 : Kleine Kulturgeschichte der manuellen Medizin

Auf den folgenden Seiten erfahren Sie Wissenswertes über die Geschichte des Heilens mit den Händen. Das Auflegen der Hände, um Schmerzen und Krankheiten zu lindern und zu heilen, ist so alt wie die Menschheit. Ein weiter Weg führt von diesen meist religiös motivierten Heilern zum nüchternen Chirotherapeuten unserer Zeit mit seinem breiten medizinischen Wissen und seinen vielfältigen Möglichkeiten, Krankheiten zu diagnostizieren und zu behandeln. Doch auch heute wird der engagierte Arzt seinem Patienten noch einen Hauch von der Magie des Heilens vermitteln.

Kapitel 1.1 Der aufrechte Gang und seine Folgen

Die Tatsache, daß sich der Mensch aus dem Vierfüßerstand erhob, um auf zwei Beinen zu gehen, hatte weitreichende Folgen bis heute. Die Geschichte der Medizin ist somit von Anfang an auch die Geschichte der Rückenbeschwerden und ihrer Behandlung, wobei freilich die Ursache des Leidens zumeist bösen Geistern zugeschrieben wurde.

So wie es heute noch bei den Naturvölkern üblich ist, war es in grauer Vorzeit der Medizinmann, der heilte, indem er die Hände auflegte und Zaubersprüche murmelte. Die bösen Geister wurden durch Kneten und Beklopfen vertrieben – sicherlich mit Erfolg, sofern es sich bei den Geistern um „Rückenbeschwerden jeglicher Art“ handelte! Magie und Therapie, Medizin und Religion hingen untrennbar zusammen.

Dies zeigt sich auch in den 5000 Jahre alten Papyrusrollen des alten ägyptischen Reiches, die später jeweils nach ihren privaten Sammlern benannt wurden, z.B. „Papyrus Smith“ und „Papyrus Ebers“ nach einem deutschen Ägyptologen. Neben magischen Zauberformeln und Beschwörungen der alten Götter enthalten diese Papyri ganz konkrete Vorschläge für die Zubereitung von Salben und – vor allem – für die Behandlung des Rückens! Im Papyrus Smith wird zum Beispiel bereits festgestellt, daß Schiefhals und Hexenschuß „Verdrehungen und Verrenkungen“ der Wirbelsäule sind. Diese zu beheben war wichtig, zumal die Wirbelsäule von den Ägyptern als Sitz des Lebens betrachtet wurde. Es ist gut vorstellbar, daß beim Bau der Pyramiden mit den damaligen unzureichenden Hilfsmitteln und bei unzähligen Kriegszügen Wirbelsäulenprobleme gehäuft auftraten. In einer anderen Hochkultur, nämlich in Indien, beschreibt ein legendärer Arzt etwa um 1500 v.Chr. das Phänomen der Gelenksperre so präzise, daß wir es ganz eindeutig unserem heutigen Begriff der Blockierungen zuordnen können. Im antiken China gar war die Mechanotherapie der Wirbelsäule (heute sagen wir Manuelle Therapie, also Behandlung mit den Händen) eine der sieben Wissenschaften an den medizinischen Hochschulen. Sie wurde von einem Professor und vier Masseuren gelehrt.

Der „Goldene Spiegel“, ein medizinisches Standardwerk, das 1739 von 40 Ärzten auf Befehl eines chinesischen Kaisers verfaßt wurde und dessen Wurzeln etwa 2000 Jahre zurückreichen, enthält recht genaue Angaben über das „Einrenken“ von Gelenken. Auch in Japan, wo die chinesische Medizin übernommen und weiterentwickelt wurde, gelangten die Kunst der Massage und andere therapeutische Techniken binnen kurzer Zeit zur Blüte.

Dies alles wurde trotz der recht unzulänglichen anatomischen Kenntnisse der damaligen Zeit erreicht – die Anzahl der Wirbel wurde in Ostasien z.B. auf 21 statt auf 24 beziffert.

Aus dem Zweistromland an Euphrat und Tigris liegen uns schon aus der Zeit des babylonischen Königs Hammurabi (1793–1750 v.Chr.) Angaben über ärztliche Behandlungen des Rückens vor, die sowohl mit den Händen als auch apparativ durchgeführt wurden. Die Heilmethode wurde unter dem Namen „Sur chuna“ überliefert.

Darüber hinaus hat uns der arabische Arzt Avicenna (um 1000 n. Chr.) einen „Kanon der Medizin“ hinterlassen, in dem er ähnliche Techniken beschreibt.Wenden wir uns nun der Medizin der europäischen Antike zu, die gleichbedeutend mit der klassischen griechischen Medizin ist.

Um 460 v.Chr. betritt der berühmteste Arzt des Abendlandes, Hippokrates von Kos, die Bühne der Medizingeschichte. Neben Verrenkungen aller Art, welche die Wirbelsäule betreffen, beschreibt er folgendes Zustandsbild: „Die Wirbel sind nicht ganz, sondern nur ein wenig verschoben …“ Im weiteren Text heißt es: „Man soll gebrochene und verrenkte Glieder nach den Weisungen der Natur und nicht nach vorgefaßten Meinungen behandeln.“

Diese Zitate sind einem viele Bände umfassenden medizinischen Standardwerk entnommen, das Hippokrates und seine Schüler verfaßt haben. Obwohl es als Corpus hippocraticum bezeichnet wird, gehen nur Teile davon auf ihn selbst zurück. Die oben erwähnten Zitate können ihm jedoch mit großer Sicherheit zugeschrieben werden, ebenso wie die Erfindung der Streckbank, mit deren Hilfe alle möglichen Rückenprobleme behandelt wurden. Zusätzlich wurde mit der Hand gedrückt, gepreßt, geschlagen und erschüttert – es wurde also Chiropraktik betrieben.

Im Werk des Hippokrates finden sich exakte Angaben zur Einrenkung des Kiefergelenks wieder, die wörtlich so bereits in einer der ägyptischen Schriftrollen erwähnt sind. Beim Corpus hippocraticum handelt es sich übrigens um ein rein medizinisches Werk ohne Zauberformeln. Sogar ein ärztlicher Verhaltenskodex ist hier festgelegt – der berühmte Eid des Hippokrates, dem sich auch heute die Ärzte verpflichtet fühlen und der zumindest dem Namen nach den meisten Lesern bekannt sein dürfte.

Zwei weitere berühmte Ärzte möchte ich hier nicht unerwähnt lassen: Apollonius (um 60 v.Chr.) und Galen (130–200 n.Chr.). Apollonius schrieb einen ausführlichen Kommentar zum Werk des Hippokrates. Er ergänzte die Erfindung der Streckbank um einige andere Geräte, mit denen die durch die Hand des Arztes erfolgende Behandlung unterstützt wurde.

Der Arzt Galen kann ebenso wie Hippokrates als Universalgenie gelten. Er, der sozusagen als „Betriebsarzt“ der Gladiatoren in Rom praktizierte, führte bereits anatomische Studien durch. Er beschrieb einen Zustand, bei dem „die Bänder der Wirbelsäule erschlafft“ sind, als Zustand der Erschütterung, eine Definition, die uns heute bekannt anmutet.

Das Mittelalter schließlich erscheint uns heute – zumindest im europäischen Raum – auch in medizinischer Hinsicht als finstere Zeit. Die Behandlung von Problemen der Wirbelsäule oblag den Badern, den Barbieren und – den Scharfrichtern. Diese erwarben ihre anatomischen Kenntnisse u.a. dadurch, daß sie die Gefolterten wieder einrenkten, wobei sie natürlich auch ausgekugelte Gelenke richteten. Die Henker behandelten außerdem Zerrungen und Blockierungen in den verschiedenen Wirbelsäulenabschnitten. Darüber hinaus konstruierten sie Korsette und behandelten verschiedenartige Rückgratverkrümmungen bei der Bevölkerung.

In ihren Memoiren erzählt die Zarin Katharina II., die als deutsche Prinzessin geboren wurde und im 18. Jahrhundert lebte, daß der Henker ihr als jungem Mädchen ein Korsett angepaßt habe, um eine seitliche Rückgratverkrümmung, also eine Skoliose, zu behandeln. Wegen seines anrüchigen, ehrlosen Berufs habe ihre Familie lange gezögert, sich seiner Fähigkeiten zu bedienen. Er war jedoch als einziger imstande, ihr zu helfen!

Nur die „verachteten Berufsstände“ befaßten sich bis in die Neuzeit hinein mit den medizinischen Problemen des Knochengerüstes. Den Gipfel stellt eine diffamierende Liste dar, in der aufgezählt wird, wer an den Gelenken arbeiten darf, nämlich „verdorbene Apotheker, verlorene Pfaffen, dolle Juden, Kozismuskrämer, Schneider, Torwächter, Wurzenträger, Zahnbrecher, alte Einöggen, zahnlose Vetteln, alte hebräische beschworene Weiber, Baderknechte, Vasenmeister und andere Idioten“.

Ausschlaggebend für diese verhängnisvolle Entwicklung der handwerklichen Medizin war die Tatsache, daß die Kirche ihren sämtlichen Amts­inhabern, also Mönchen sowie Priestern und Angehörigen geistlicher ­Ritterorden, verbot, an Leichenöffnungen und chirurgischen Eingriffen teilzunehmen. Da bisher die medizinische Betreuung in Europa zu einem großen Teil in Händen der Kirche lag, führte dies natürlich zum Er­lahmen des Interesses der wissenschaftlichen Medizin an jeder Art von Behandlung mit den Händen. Dies betraf – neben der Behandlung der ­Gelenke – zum Beispiel ja auch die Geburtshilfe, die von da an als Tätigkeit von Hebammen und weisen Frauen „verkam“. Erst seit relativ kurzer Zeit sind Gynäkologie und Geburtshilfe ein eigenes medizinisches Fach.

Dementsprechend beschränkten sich die handwerklichen Fähigkeiten der akademisch gebildeten Doktoren bis ins 18. Jahrhundert zumeist auf Aderlässe und das Setzen von Schröpfköpfen. Sie arbeiteten wenig am Körper des Patienten. Dies im Gegensatz zu den Wundärzten und Baderchirurgen, die keine Universität absolvierten. Sie gaben ihr Wissen und ihre Fertigkeiten durch mündliche Überlieferung und am praktischen Beispiel weiter. So darf es nicht wundern, daß auch das „Einrenken“ bis in die Neuzeit, ja bis weit in unser Jahrhundert hinein, als Scharlatanerie oder zweifelhafte Methode galt.

Auch als die Bader und Barbiere 1548 eine Zunftordnung erhielten, besserte dies kaum den Ruf der manuellen Medizin. Die Chirurgen, die ja als Handwerker galten, verfügten über eine eigene Zunftordnung.

Gerechterweise müssen jedoch einige medizinische Ausnahmen erwähnt werden. Vor dem Hintergrund dieser eher von Rückständigkeit geprägten Epoche haben sich einige Persönlichkeiten in erfreulicher Weise abgehoben. Zwei der berühmtesten gehörten übrigens dem geistlichen Stand an: die Nonne Hildegard von Bingen und der Priester und Arzt Theoderich von Bologna. Beide lebten im 12. Jahrhundert.

In den Werken der Hildegard von Bingen finden sich eindeutig Ansätze einer ganzheitlichen Therapie, wobei sie keinen Aspekt des menschlichen Körpers ausklammert. Theoderich, dem die Kirche schließlich die Ausübung der Heilkunde verbot, ließ Praktiken der Wirbelsäulenbehandlung wiederaufleben, die von Hippokrates beschrieben….

Um 1530 herum revolutionierte der berühmte französische Arzt Ambroise Paré, der übrigens bezeichnenderweise seine Karriere als Lehrling eines Baders begonnen hatte, die Chirurgie und machte sie wieder salonfähig. Seine Bemühungen betrafen sowohl den blutigen als auch den unblutigen Aspekt dieses Faches. So finden sich in seinen Werken z.B. an Hippokrates orientierte Hinweise auf die Behandlung von Luxationen und „Erschütterungen der Wirbelsäule“, die sowohl mit den Händen als auch mit zwei Stöckchen bei Zerrungen und Verspannungen vorgenommen wurde. Die Stöckchen wurden vermutlich rhythmisch über die Wirbel gedrückt.

Das über einen langen Zeitraum mangelnde Interesse an Wirbelsäulenbehandlungen jeglicher Art wurde in den darauffolgenden Jahrhunderten – insbesondere im 18. – über alle Maßen kompensiert. Gemäß der gängigen Meinung, daß man Ungemach an der Wirbelsäule am besten mit Apparaten zu Leibe rücken sollte, wurden die abenteuerlichsten Geräte konstruiert. Sie dienten zum einen dem Zweck, den Druck und Zug der menschlichen Hand an den Wirbeln vollständig zu ersetzen, zum anderen sollten sie auch noch im Falle einer Seitverbiegung (Skoliose) die Wirbelsäule „geraderücken“.

Betrachtet man einige dieser Konstruktionen etwas genauer, so ist die Ähnlichkeit mit Folterwerkzeugen sicher keine zufällige: der Unterschied zu vielen Foltermethoden lag lediglich in der Stärke der Anwendung. Da auch damals viele Patienten und Ärzte diese Torturen als qualvoll und nutzlos empfanden, setzte sich auch ein Großteil davon nicht durch.

Ende des 19. Jahrhunderts schließlich lebte die uralte Einrenkungsform mit der Hand wieder auf, sowohl durch einen Schweizer Arzt namens Nae­geli als auch – etwa zeitgleich – in Amerika durch Dr. Andrew Still. Dort wurde schließlich auch – und zwar von einem Gemischtwarenhändler namens Palmer – der Begriff Chiropraktik geprägt (cheiros, griechisch = die Hand, d.h. Arbeit mit der Hand).

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangten die Grifftechniken aus Amerika über Dr. Karl Sell und einige andere Kollegen zur deutschen Ärzteschaft. Es wurde versucht, einen wissenschaftlichen Unterbau für die manuelle Therapie zu erarbeiten. Für die Ärzte, die akademischen Einrenker also, die eine entsprechende Ausbildung und anschließende Prüfung absolviert hatten, wurde die geschützte Bezeichnung „Chirotherapeut“ geschaffen. Dies im Gegensatz zu den übrigen Einrenkern ohne akademische Ausbildung, im Volksmund heute „Knochenbrecher“ genannt. Man bezeichnete sie auch von alters her als „Gliedsetzer“ oder „Ziehleute“. Häufig wurden die Fähigkeiten und Fertigkeiten vom Vater an den Sohn weitergegeben.

Meine kleine Kulturgeschichte der Chirotherapie und Chiropraktik möchte ich jedoch nicht beenden, ohne zu erwähnen, daß bis heute bei den Naturvölkern sowie in Osteuropa Familienangehörige – und zwar nicht nur Kinder – abends über den Rücken der Eltern laufen, um diesen Entspannung und entsprechende Nachtruhe zu verschaffen. Bei den Huzulen in der Ukraine ist folgendes Ritual üblich: Während eines bestimmten Abschnittes des Gottesdienstes legen sich die Gläubigen nieder, und der Geistliche schreitet über ihre Rücken. Danach sind Rückenbeschwerden verschiedenster Art behoben. Hier wird wieder der anfangs von mir erwähnte Zusammenhang zwischen Krankheit, Schmerz und Heilen, Heilbringen, nämlich dem Priesteramt, offensichtlich. So schließt sich der Kreis.